magus tage  MÜNSTER


Das Thema „Verstehen“

„Man lebt nicht gut mit dem Gefühl, gerade über die wichtigsten Dinge keine Klarheit zu besitzen.“1 Oder: wer sich ums Verstehen des Verstehens bemüht, lebt besser.

Nichts ist so selbstverständlich und nichts so universal wie das Verstehen. Wäre es das nicht, könnten wir nicht leben. Ein jeder kann es und kann das Wort der Alltagssprache gebrauchen: verstehen. Doch auf die Frage, welchen Gedanken, welches Erlebnis und welche Erfahrung wir mit dem Begriff artikulieren, geraten wir ins Stocken: „Verstehen“ versteht sich nicht von selbst.

Die 3. Magus Tage Münster bringen vom 16. bis 20. Oktober 2013 Schriftsteller, Wissenschaftler und Praktiker unterschiedlicher Herkunft über einen der Kernbegriffe menschlichen Selbstverständnisses und Zusammenlebens ins Gespräch. In Lesungen, Vorträgen und Diskussionen geht es um‘s Verstehen des Verstehens. Vertreter aus Literatur, Literaturwissenschaft und Philosophie, Soziologie und Neurowissenschaften, Forensik, Kriminologie und Militär geben Einblicke in gegenwärtige Reflexionen zum Verstehen und in außergewöhnliche Bereiche beruflicher Praxis. Im Fokus stehen das Selbstverstehen des Ich, das Einander-Verstehen und die Funktion der Sprache dabei sowie Probleme des Verstehens von Texten.

Der Magus – „Sprungbrett“ in aktuelle Diskurse

Ausgangspunkt des Nachdenkens über‘s Verstehen sind die Schriften Johann Georg Hamanns, der als „Magus in Norden“ – ein Ehrentitel, der ihm angetragen wurde und mit dem er sich identifizierte – Geistesgeschichte schrieb. Hamann wurde 1730 in Königsberg geboren, verbrachte den Großteil seines Lebens dort, sein letztes Lebensjahr aber als Gast der Fürstin von Gallitzin und seines Mäzens, Franz Kaspar Bucholtz, in Münster. Hier starb er 1788 nach langer Krankheit. In Münster, auf dem historischen Überwasser-Friedhof, befindet sich noch heute Hamanns Grab, das zu den Magus Tagen 2010 von der Vereinigung Niederdeutsches Münster restauriert wurde. Die Universitäts- und Landesbibliothek bewahrt wichtige Teile seines Nachlasses auf.

Doch die Magus Tage betreiben keine Hamann-Exegese, sondern nutzen Hamanns Texte als „Sprungbrett“ in aktuelle Diskurse zum Verstehen. Es geht um die Reflexion des Themas auf dem Stand heutigen Denkens in Wissenschaft, Literatur und Gesellschaft – mit Seitenblick auf, mit Inspiration durch Hamann und unter besonderer Berücksichtigung der Macht und Funktion der Sprache. Denn wir verstehen einander und uns selbst im Medium der Sprache, die uns gemeinsam ist und die für Hamann das große Lebensthema, immer Rätsel und Geheimnis war: „Vernunft ist Sprache, LOGOS; an diesem Markknochen nag‘ ich, und werde mich zu Tod drüber nagen.“2

Die Magus Tage machen Texte eines Schriftstellers zum Sprungbrett für Gespräche über‘s Verstehen, die sich dem schnellen Verstehen und „schlichtem Lesen“3 entziehen. Schon seine aufgeklärten Zeitgenossen nahmen Anstoß an der Literatur des bekennenden und missionierenden Protestanten aus dem preußischen Norden. Johann Georg Hamann verstand sich selbst als „Philologe des Kreuzes“ und positionierte sich in seinen Texten dezidiert in „Gegnerschaft zur gesamten rationalistischen Strömung der europäischen Philosophie“4. So wurde er Mitinitiator der Anderen Moderne, muss nach Isaiah Berlin sogar als „der vergessene Ursprung einer Bewegung, die schließlich die ganze europäische Kultur überschwemmte“, gesehen werden. Ohne Hamann, den der Philosoph kritisch zu einem „der wichtigsten, wenn auch oft ärgerlichen Partisanen der Zivilisation“5 stilisiert, hätte es wohl keine Romantik und keine Existenzphilosophie gegeben. Auch Topoi der Aufklärungskritik und der Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts hat er präludiert6. Hamann war aus Konservativismus progressiv. Er wirkte auf Herder, Goethe, Jacobi, Wackenroder, Tieck, von Arnim, Brentano, Jean Paul, Kierkegaard, Grillparzer, im 20. Jahrhundert auf Benjamin, Jünger, Bobrowski, Eich, Wühr oder Egger7, um nur einige Namen zu nennen.

Mit seiner Schwerverständlichkeit stellt sich bei der Lektüre eines jeden Textes von Hamann in irgendeiner Weise das Problem des Verstehens. Das, nicht allein die Ablehnung seines christlichen Denkansatzes, führte dazu, dass seine Schriften unterm Vorurteil der Dunkelheit, des Subjektivismus, der Unverständlichkeit und des Irrationalismus ignoriert und marginalisiert wurden. Auch aufgrund der Hamann-Renaissance in der Forschung der letzten 50 Jahre, der theologischen und literaturwissenschaftlichen Kommentierung und Interpretation seiner Texte, sind wir heute allerdings in der Lage, Hamanns Stil selbst als kalkulierte Sprach- oder „Autorhandlung“ und inhaltliche Aussage zu erkennen. Wir verstehen den Grund der Unverständlichkeit, die der protestantische Magus bewusst herstellt und ausdrücklich reflektiert, sowie die antirationalistische Stoßrichtung dieser Provokation: Weil – kursorisch angedeutet – Welt, Natur und Geschichte sich rationalem Verstehen entziehen, weil jedes Ich sich selbst und seinem Gegenüber fremd ist, weil es Individuum, leiblich-geistige Einheit, und seine Sprache unzulänglich ist, weil überhaupt nur Gott jeden Menschen und die Welt, seine Schöpfung, versteht, wäre ein Text, der durch eine glatte Sprache, durch rationale Durchsichtigkeit und leichte Lesbarkeit problemloses Verstehen suggeriert, nicht wahrhaftig und wahr.


Anmerkungen
1) Peter Bieri: Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens. Frankfurt a.M. 2003, 26.
2) Hamann an Herder, 06.08.1784. Hamann Briefe V, 177. – Hamanns Briefe sind, wegen der besseren Lesbarkeit unter Anpassung der Orthografie an die heutige Schreibweise und unter Vernachlässigung der zahlreichen typografischen Auszeichnungen, zitiert nach: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955–1979 (= Hamann Briefe I – VII).
3) Rudolf Schwarzenbach: Hamanns Prosa. In: Reformatio 10/1961, 642.
4) Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J.G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Berlin 1995, 9.
5) Isaiah Berlin, 26, 22.
6) Vgl. z.B. Josef Simon: Hamann und die gegenwärtige Sprachphilosophie. In: Johann Georg Hamann. Acta des zweiten Internationalen Hamann-Colloquiums im Herder-Institut zu Marburg/Lahn 1980. Marburg 1983, 9-20.
7) Vgl. z.B.: „Rede, daß ich Dich sehe!“ Wortwechsel mit Johann Georg Hamann. Hg. von Susanne Schulte. Aachen 2007.



 

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