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Im Juli 1997 war ich zum ersten Mal für einen Tag in Münster.
Selbstverständlich wollte ich Hamanns Grab auf dem Überwasser-Friedhof
besuchen. Der historische Friedhof, der heute ein Park ist, war voller
Menschen, denn der strahlende, wind- und wolkenlose Tag war ideal für
Sonnegenuss und Ruhe. Und ich suchte nach Hamanns Grab, zuerst unter den
erhalten gebliebenen Grabsteinen inmitten der Anlage, dann am Rand. Ich
konnte aber das Grab nicht finden, und keiner der auf den Bänken
sitzenden oder vorübergehenden Menschen konnte mir helfen. Nach langem
erfolglosen Suchen wollte ich verzweifelt und unter Zeitdruck den Friedhof
verlassen. Plötzlich, als ich mich schon auf den Weg gemacht hatte,
unerwartet und aus dem nirgendwo – der Tag war windstill –,
kam ein heftiger Windstoß und brach einen Ast von einem hohen Baum
mitten auf dem Friedhof ab. Er wäre mir beinahe auf den Kopf gefallen.
Ich bückte mich zu dem Ast und entdeckte im grünen Gras eine
kaum sichtbare Holzplatte mit einem halberloschenen Pfeilchen und einer
Inschrift: „Zu Hamanns Grab“.
Im verwilderten und verwachsenen Gebüsch am Rande des Friedhofs fand
ich endlich den kleinen Grabstein. Kein Vergleich mit heute – das
Grab Hamanns wurde 2010 zu den Magus Tagen Münster vom Verein Niederdeutsches
Münster behutsam restauriert.
Ein Zufall, der jedoch in meinem symbolhaft geprägten Weltbild bedeutsam
war, denn ich komme aus Königsberg/Kaliningrad, einer Stadt, deren
Geschichte zu einem Mythos geworden ist, wo allerlei Zeichen des Seins
und des Nichtseins zu einem dichten Knoten gebunden sind. Es war für
mich wie eine Herunterlassung Hamanns, obwohl ich dabei von dem abgebrochenen
Ast beinahe totgeschlagen worden wäre …
Eine ähnliche Erfahrung – beinahe totgeschlagen – machte
ich später bei der Übersetzung Hamanns ins Russische, die ich
trotz des Wissens um das vielschichtige Problem, das Hamann für den
modernen Zeitgeist bedeutet, gewagt habe. Eigentlich aus den folgenden
Gründen, die nicht nur mich, sondern viele Russen aus „Kenig“
angehen:
1) Meine existenziell-psychologische Verwurzelung in der Königsberger
Kulturdramatik bildet einen Beweis für die Defizite und Nachteile
der neuzeitlichen Denkmodelle, deren Opponent Hamann war. Das „versiegelte
Buch“ des Hamannschen Schaffens ist mit dem der Königsberger
Geschichte vergleichbar, die in gewissem Sinne zu einem Mythos wurde;
dessen Bestandteil ist auch Hamann. Das Phänomen Königsberg/Kaliningrad
kann in seiner hermeneutischen Eigenart kaum im Rahmen der philosophischen
und historischen „Wahrheiten“, die dem modernen Zeitgeist
dienstbar sind, begriffen werden. Es bedarf einer neuen, tieferen Wahrheit
wie auch einer neuen Qualität der politischen Denkkultur.
2) Meine Suche nach einer wahren Identität sowohl im weiten, allgemein
menschlichen, wie auch im spezifischen, eng regionalen Sinne beinhaltet
die Notwendigkeit ortsgebundenen Denkens: Ich bin herangewachsen in einem
kulturellen Umfeld, wo mehrere Kulturdimensionen, vor allem aber die des
Deutschen und die des Russischen mit einander auf eigentümliche Weise
verflochten, eher zusammengestoßen sind.
3) Außerdem stelle ich eine faszinierende Verwandtschaft Hamanns
mit dem religiös-philosophischen und dichterischen Werk des russischen
„Silbernen Zeitalters“ fest, zu dessen welt- und weniger bekannten
Vertretern Wladimir Solowjov, F. Dostojewskij, N. Berdjaev, B. Pasternak,
M. Bachtin u.a gehören. Das geistige und stilistische Suchen eint
der Versuch, die sog. „dritte Dimension“ aufzuspüren
und aufzuarbeiten, wo Glauben und Wissen, Gefühl und Verstand nicht
einander gegenübergestellt, sondern als einander ergänzende
Ganzheit erkannt werden. Für diese Tradition sind solche Hamannschen
Elemente kennzeichnend wie „Worthuldigung“, „Wortverehrung“
sowie die sog. „Gnoseologie des Herzens“.
Die Logozentrik Hamanns entspricht der russischen Sehnsucht nach dem „wahren“
Ur-wort für die von so vielen Katastrophen gepeinigte Landschaft,
wo die alten Namen in ihrem eigentlichen Sinn verloren, vergessen, missverstanden
mit den neuen verwickelt sind, ohne aber den wirklichen Eigennamen entwickelt
zu haben – Kaliningrad? Kaum: eher „Kenig“.
Denn bei der Suche nach der „tieferen Wahrheit“ ist die Hamann-Stadt
herausgefordert, eine tiefere Logosstruktur zu entwickeln, wo man nicht
hasst, sondern liebt, nicht verformt, sondern formt, nicht trennt, sondern
versöhnt. Diese Logosstruktur entspricht wohl einer anderen Struktur
der Seele, wie es 1964 in einem der drei Gedichte „Ansichtskarte
aus der Stadt K.“ –Königsberg/Kaliningrad – von
Joseph Brodskij1 heißt:
Doch bist Du kein Gespenst, vielmehr von Fleisch
und Blut, geh’ zur Natur in die Lehre. Wenn
du diese Landschaft fertigbringst, dann such dir
für Deine Seele ein andere Struktur!
Diese Suche nach einer anderen Struktur für die Seele in Königsberg/Kaliningrad
kann, streng hermeneutisch gesehen, nur in der „großen Zeit
der Kultur“ geschehen, die einen offenen Dialog beinhaltet. Ohne
Dialog ist „K.“ zu sinnentleerter Anonymität verurteilt
…
Gerade vor diesem Hintergrund wirkt das Schicksal Königsbergs prophetisch,
gleichfalls aber könnte es die Suche nach einer „Grammatik
des Lebens“ für die Region initiieren. Gerade vor diesem Hintergrund
ist in Königsberg/Kaliningrad eine ganz besondere Philosophie und
Theologie der Hoffnung zu verorten, personifiziert einerseits in Kant,
anderseits in Hamann. In seiner historischen Dramaturgie wäre Königsberg
ein schmerzvoller Anlass für das Ende des „Konflikts der Interpretationen“
und die Stadt lieferte ein Verständnismodell für die zwei einander
entgegengesetzten eschatologischen Perspektiven der Weltgeschichte, welche
in ihrem historisch-politischen, religionsphilosophischen und dichterischen
Schicksal ihre Widerspiegelung gefunden haben: einerseits für die
apokalyptische Perspektive „des Willens zum Tode“, die entweder
durch den Verlust der theozentrischen Subjektivität in der Ontodynamik
(so im Sinne Hamanns) oder durch den Verrat am „moralischen Gesetz“
(so im Sinne Kants) verursacht ist; andererseits die soteriologische Perspektive
des „Willens zum Leben“, d.h. zu einer neuen Qualität
des Daseins, der „synergetischen Ontodynamik“, entweder in
einem ontologischen Dialog zwischen Gott und Mensch (so im Sinne Hamanns)
oder als Praxis des „moralischen Gesetzes“ (im Sinne Kants).
Dieses Spannungsverhältnis des Königsberger Schicksals bedingt
die emblematische „Grenzsituation“ dieser Stadt auf der Grenze
zwischen Ost und West, Gestern und Morgen, zwischen Gefühl und Verstand,
Gewissen und Verrat am Gewissen, letztlich zwischen Gott und Mensch. Das
Geheimnis dieser grundlegenden „Grenzsituation“ wirkt provokativ
für die heutige Zivilisation. Direkt oder indirekt verstehen die
meisten, dass dieses Königsberg/Kaliningrad eine ganz besondere Stellung
in den Zukunftsszenarien Europas einnimmt. Vor allem in den Szenarien
der Hoffnung.
Die Hoffnung für die Stadt „K.“ ist schon von Brodskij
angedeutet in der notwendigen Suche „nach einer anderen Struktur
der Seele“, was unvermeidlich zum Dialog verpflichtet, denn, wie
die Geschichte zeigt, ist jede Art Monolog – religiös, ideologisch,
national – gefährlich. In „K.“ begann der Dialog
praktisch in den Tagen des Sturms auf Königsberg, als am 9. April
1945 über dem Grabmal Kants an der nördlichen Seite des alten
Königsberger Domes eine Inschrift erschien, geschrieben von einem
unbekannten Sowjetsoldaten – eine Anrede, eine Botschaft an den
Philosophen von einem siegreichen Krieger, der dank den Politstunden in
der Roten Armee mit den Grundsätzen des Marxismus-Leninismus bekannt
war: „Nun siehst Du, dass die Welt materiell ist.“
Einen Tag später erschien ein anderes wahres Wunderzeichen des neu
entfalteten „Gesprächs“. In der blutigen Aprilschlacht,
in Sturm und Feuer, blieb das Friedrich-Schiller-Denkmal erhalten, verschont
nicht nur vom Bomben- und Kugelhagel, sondern auch von der Zerstörungsgier
der Eroberer, dank einem von ihnen. Auf einer Seite des Sockels war in
deutsch geschrieben: „Nicht schießen!“ Auf der anderen
Seite auf russisch: „Nicht schießen, er ist unser!“,
als ob ein unbekannter Russe dem Wort Goethes über Schiller widersprechen
wollte … Und der Dialog geht weiter in der Stadt, die einmal von
Kant in seiner Anmerkung in der „Anthropologie in pragmatischer
Hinsicht“ als „ein schicklicher Platz zur Erweiterung der
Welt- und Menschenkenntnis“ bezeichnet wurde. In dem sich dynamisch
entwickelnden „baltischen Gürtel“ des heutigen Europa
ist Königsberg/Kaliningrad prädestiniert, Brücken in die
Zukunft zu bauen, Brücken in die Vergebung, Brücken des Vertrauens
und der gegenseitigen Verantwortung, wo man einander verstehen lernt.
Das hängt mit der Problematik der interkulturellen Kommunikation
und Hermeneutik zusammen, in der Hamann schon längst eine ehrenvolle
Stellung eingenommen hat. Eigentlich gehört sein Logos in die Präpositionsperspektive
einer „neuen Aufklärung“, die für seine Heimatstadt
angesichts der modernen Herausforderungen lebenswichtig ist…
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die Stadt wie eine neue Metropole
der Sowjetunion, neue Generationen, in der Mehrzahl Russen, wurden geboren.
Im kollektiven Gedächtnis Kaliningrads aber weilte immer, mehr oder
weniger bewusst, das alte Königsberg mit seinem tief verwurzelten
Geheimnis vom gemeinsamen Schicksal der beiden Städte. Das Geheimnis
wurde noch rätselhafter, als die Region Kaliningrad Anfang der 90-er
Jahre zu einem Bruchstück des Sowjetreichs wurde, zu einer russischen
Exklave, seit 2003 aber gleichfalls zu einer Enklave der EU. Die neue
Lage barg die Gefahr eines allumfassenden, nicht nur wirtschaftlichen,
sondern auch anthropologischen Kollapses. Der rapide Abstieg der Wirtschaft,
die vorher hauptsächlich für das Militär gearbeitet hatte,
brachte die Region an den Rand der Katastrophe: 1995 war über die
Hälfte des Gesamtproduktionsvolumens und fast 64% der Industrieproduktion
verloren; Armut, Arbeitslosigkeit, Entmutigung, Hoffnungslosigkeit…
Die Region aber hielt trotz der dramatischen Transformationsschwierigkeiten
und trotz ihrer Isolation stand. Dank dem Gesetz über die Sonderwirtschaftszone
und einem großzügigen föderalen Entwicklungsprogramm begann
man, die Krise allmählich zu überwinden: Vor Ausbruch der letzten
Weltkrise erlebte Kaliningrad einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung,
das regionale Gesamtproduktionsvolumen stieg jährlich um 9,7% an,
das Wachstum in der Industrie betrug 15,5%, was höher als der russische
Durchschnitt war. Aufgrund des Status der Sonderwirtschaftszone entwickelten
sich nicht nur die für die traditionellen Industriezweige der Region
(Hafen, Schiff- und Gerätebau, Fisch-, Elektro- und Zellstoffindustrie,
Metallverarbeitung u.a.), sondern auch die neuen Branchen: Lebensmittelindustrie,
Produktion von Möbel und Haushaltsgeräten, Automobilbau. So
hat 2009 das Kaliningrader Unternehmen Avtotor in Kooperation mit BMW
in Deutschland, KIA in Südkorea und General Motors in den USA mehr
als 50.000 Autos montiert. International anerkannt ist die Produktion
des Kranbaubetriebs Baltkran und des Metallkonstruktionswerks Kaliningradmorneft,
die die Hightech-Ölbohrinsel D-6 22 km vor der Ostseeküste gebaut
haben. Zur Lösung des regionalen Energieproblems wurde ein modernes
Elektrizitätswerk errichtet, das durch die Pipeline Minsk –
Vilnus – Kaliningrad mit Erdgas versorgt wird.
Die Region erlebt einen Bauboom: Das Stadtzentrum wirkt wie eine europäische
Innenstadt mit schicken Einkaufszentren, Banken und Geschäften. Eine
moderne Ringautobahn wird auf der samländischen Halbinsel gebaut,
die die Gebietsmetropole mit den Ostseebädern verbindet. Es werden
euphorische Pläne für die Zukunft geschmiedet: ein „Las
Vegas an der Ostsee“ mit rund 40 neuen Hotels, die Hälfte davon
mit integriertem Kasino; ein internationaler Passagierhafen in Neukuren
(35 km von K.) mit Abfertigungsterminal für Kreuzschiffe und Fähren,
dazu ein touristischer und ein Erholungskomplex mit Yachthafen; ein Atomkraftwerk
im Osten der Region Kaliningrad usw.
Die Region lebt und hofft auf eine besondere Mission der russischen Vorbrücke
zur EU.
Die herausfordernde Frage „Quo vadis?“ bleibt aber, trotz
gutem Willen, bis heute unbeantwortet. Doch dieses „Quo vadis?“
stellt sich nicht nur für die regional beschränkte politische
Denkkultur, sondern für den modernen Zeitgeist im allgemeinen. Denn
das typologische Denken hat schon längst erkannt, dass das Sinnen
über Königsberg eines über den Sinn der Geschichte selbst
ist.
Eines der schärfsten Probleme der heutigen Kaliningrader ist das
ihrer Identität. Was sind wir? Eine soziologische Untersuchung des
Instituts für Politologie und Soziologie der Kaliningrader Kant-Universität
zeigt eine tiefgreifende Einsicht der meisten Einwohner in die Besonderheit
der regionalen Identität. Über 45% der Einwohner sehen sich
als einen besonderen Menschenschlag an. Was für eine besondere Qualität
ist das? Was für eine historisch psychologische Subjektivität?
Ganz symptomatisch ist die Tatsache, dass dieser neue Menschenschlag Kaliningrader
sich von den typischen Russen unterscheiden will, nur 37% der befragten
Einwohner halten sich für Russen. Dabei ist dieser Prozentsatz in
der Altersgruppe unter 27 Jahren noch viel niedriger, nur 20%. Auf der
Suche nach regionaler Identität bevorzugen die Kaliningrader, sich
als Regionalrussen, Regionalbürger, Baltorussen oder auch Königsberger
zu bezeichnen.
Es ist so, als ob die Region sich aus dem Labyrinth der Identitätskrise
mit ihren Zerklüftungserscheinungen herauszufinden versucht. Aber
dazu braucht sie eine tiefere Wahrheit. Der schwer objektivierbare Sinn
dieser sog. tieferen Wahrheit ist mindestens zum Teil vergegenständlicht
in der dialektischen Bildhaftigkeit der Königsberger Kultursubstanz.
Kaliningrad ist voller Sinnbilder, deren Rangliste nach der genannten
soziologischen Studie folgenderweise aussieht:
1) Etwa 12% der befragten Kaliningrader halten das Kalinin-Denkmal für
das Wahrzeichen der heutigen Stadt. Michael Iwanowitsch Kalinin, ein Weggefährte
Stalins bei dessen Massenvergeltungsmaßnahmen, Säuberungen,
Völkervertreibungen. Alle russischen Städte, die früher
seinen Namen getragen hatten, wurden umbenannt. Sie haben ihren historischen
Namen zurückbekommen oder einen neuen. Wir nicht.
2) An dritter Stelle in der Rangliste steht die 2006 eingeweihte russisch
orthodoxe Christus-Erlöser-Kathedrale, die heute das Stadtzentrum
dominiert.
3) An zweiter Stelle, 40% der Befragten haben sich dazu geäußert,
steht das Königstor, in dessen oberen Nischen die drei Skulpturen
der ehemaligen Herrscher Königsbergs zu sehen sind (der Böhmenkönig
Ottokar II., dem zu Ehren, laut der Ordenschronik Peters von Duisburg
aus dem 14. Jahrhundert, Königsberg seinen historischen Namen bekommen
hat; Herzog Albrecht, in Ansbach gebürtig, vom Hause Hohenzollern,
der letzte Hochmeister des Deutschen Ritterordens in Preußen, der
die Ordensstadt 1525 säkularisiert und zum weltlichen Herzogtum umgewandelt
hat; und der erste König in Preußen, Friedrich I., der sich
im Königsberger Schloss, gegen den Willen des Papstes, jedoch mit
Zustimmung des Kaisers, am 18. Januar 1701 eigenhändig gekrönt
hat).
4) Und die überwiegende Mehrheit der Befragten, das sind 72%, sind
der Auffassung, der alte Königsberger Dom sei das Wahrzeichen. Der
Dom nimmt tatsächlich eine ganz besondere Stellung in der dialektischen
Bildhaftigkeit Königsbergs/Kaliningrads ein, vor allem im tragischen
Kontext des 20. Jahrhunderts.
Die besondere symbolhafte Prägung des Domes wirkt vor allem dadurch,
dass dieses alte Königsberger Gotteshaus inmitten einer nicht mehr
existenten Welt steht, inmitten der total durch Krieg und ideologischen
Wahnsinn geschliffenen Königsberger Mondlandschaft. Und dadurch ist
der alte Dom ein wahres Stück der gemeinsamen europäischen Identität,
wo im Spannungsfeld zwischen Religion und Aufklärung, Glauben und
Wissen, Rationalität und Irrationalität, Gut und Böse sich
die Wege von so vielen Völkern kreuzen, gleichfalls von so vielen
Logoi auf der Suche nach einer tieferen Wahrheit, eigentlich nicht nur
für „Kenig“, sondern auch für die gesamte moderne
Kultur …
Hamann wurde nicht weit von dem Dom geboren, an dessen Nordseite sich
das Grabmal seines Freundes und Opponenten Kant befindet. Die beiden wurden
in Königsberg geboren und sind zum unübersehbaren Teil der heutigen
Identitätssuche in „Kenig“ geworden. Sie beide sind „unser“,
wie auch der unbekannte russische Soldat am Sockel des Schiller-Denkmals.
Hamanns Grab ist in Ihrer Stadt: Sein Name gehört auch in die lokale
und seelische Topographie von Münster. Dadurch ist er für uns,
für unsere beiden Städte verbindend ...
Und wenn schon, nach dem Wort Hamanns, „Poesie die Muttersprache
des menschlichen Geschlechts“ sei, so will ich in der „Muttersprache“
schließen und zwar mit Goethes Wort aus seinem Gedicht „Bräutigam“:
Die Sonne sank, und Hand in Hand verpflichtet
Begrüßten wir den letzten Segensblick,
Und Auge sprach, ins Auge gerichtet:
Vom Osten, hoffe nur, sie kommt zurück.
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1) Jossif Brodskij (1986): Ausgewählte Gedichte. Übers. von
Rolf Fieguth. München/Zürich, S. 59–62.
Der Text wurde zuerst veröffentlicht in: Ohne
Wort keine Vernunft – keine Welt. Bestimmt Sprache Denken?
Schriftsteller und Wissenschaftler im Wortwechsel mit Johann Georg Hamann.
Hg. Von Susanne Schulte, Waxmann: Münster u.a. 2011, S. 297 - 306.
Prof. Dr. Wladimir Gilmanov unterrichtet Fremdsprachige Philologie an
der Russischen Immanuel Kant Universität in Kaliningrad/Königsberg.
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