magus tage  MÜNSTER


Hamanns Unverständlichkeit

„Eine der neuesten und zahlreichsten Parteien führt den Namen von dem Herrn Hamann zu Königsberg, dem es durch die chaotische Dunkelheit seiner Schriften gelungen ist, viele Bewunderer zu erlangen, die ihn anbeten, ohne ihn zu verstehen.“1
„Hegels 'Phänomenologie des Geistes' ist […] eine wahre Ferienlektüre im Vergleich zu den Schriften Hamanns, denn hier taucht etwas Neues auf: die gewollte, die künstliche Dunkelheit.“2
„[…] sein ängstlicher und symbolischer Witz, geheimnisvolle Anspielungen, seine Schwärmereien, seine geschraubten Bonmots, seine räthselhaften Citationen, sein übertriebener Gebrauch biblischer Stellen, und sein unzusammenhängender, schwankender und metaphorischer Ausdruck, sind einige von den Fehlern, die er so gern als Schönheiten uns aufdringen möchte“3.

Schon zu seinen Lebzeiten verurteilte man Johann Georg Hamann und seine Leserinnen und Leser. „Von den ersten Kritiken in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts über die Literatur­geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts bis hin zu heutigen Lexikoneinträgen werden Hamanns Texte in vielfachen Wendungen zum Superlativ der Dunkelheit, zum Paradigma der Unverständlichkeit stilisiert. […] Das Ergebnis steht immer schon im voraus fest: Thema und Autor sind erledigt.“4 In der Tat, mit nahezu jedem von Hamanns Texten stellt sich den Lesenden das Problem des Verstehens, nicht allein vor dem Hintergrund der Regelpoetiken und „Deutlichkeitsmaximen des 18. Jahrhunderts“5, sondern noch, und erst recht, aufgrund der historischen und weltanschaulichen Distanz, heute.

Das aber heißt nicht, dass seine „Bewunderer“ Hamann tatsächlich nicht verstanden und seine Texte unverständlich sind, dass Hamann der „irrationalistische“, oder „subjektivistische“ Schriftsteller, der „mystische“ Idiot und „Schwärmer“ ist, als welcher er traditionell vom Mainstream der Literaturgeschichte gebrandmarkt und abserviert wurde. Man begegnet Hamann, nach der Hamann-Renaissance der letzten 50 Jahre allerdings zunehmend weniger, mit dem Stereotyp der Unverständlichkeit und des Irrationalismus, um sich von der Notwendigkeit nicht nur des Verstehens seiner Schriften, sondern überhaupt von ihrer Lektüre flott zu dispensieren. Hamann, der große Nichtgelesene der Kulturgeschichte, doch von avancierten Autoren immer Geschätzte, polarisiert – damals wie heute.

Hamann schreibt als „Magus in Norden“– ein ihm von Friedrich Carl von Moser angetragener Ehrentitel, mit dem er jedoch auch sein Selbstverständnis als lutherischer Schriftsteller bekennt. Er ist ein „Magus“ wie die drei Magi des Neuen Testaments, die Heiligen Drei Könige, die dem Stern über Bethlehem folgten bis an die Krippe Jesu. Und er ist ein „Magus“ im Sinne des Magiers, des mit Worten geistige Welten schaffenden Schriftstellers, der das Handeln derer, die ihn lesen, verändern kann: „Die Kunst, Geister zu beschwören, besteht in Worten. Man soll mir nicht umsonst den Namen eines Magus gegeben haben; ich will ihn wenigstens so gut behaupten wie weiland Salomo.“6 Hamann schreibt als Konservativer, als ein protestantischer „Philologe des Kreuzes“: als Freund des christlichen Logos, der an die Schöpfungs-Wort-Tat des biblischen Gottes und an dessen „Herunterlassung“, Kondeszendenz, in seinem Sohn, dem Gott-Menschen und lebendigen Wort Jesus-Christus glaubt. Für ihn ist die Erlösungstat Christi historische Wirklichkeit, das göttliche Wort ist die welterschaffende und lebenserhaltende, vom Alten und Neuen Testament verkündete Macht. Der Magus in Norden glaubt an eine Logos-Sprache der Natur (Natursprache) und an die göttliche und natursprachliche Grundlegung der menschlichen Sprache und Vernunft. Er vertritt eine Hermeneutik der Schöpfung: Die Welt ist Sprache, der Mensch soll sie verstehen und in seinen Worten die Schöpfung aussprechen.

Schöpfung als Rede- und Verstehenszusammenhang, korrumpiert

Sprechen ist Verstehen der Welt, die als ein einziger Redezusammenhang und Kreislauf des Verstehens konzipiert ist, welcher seinen Ursprung und sein Ziel in Gott hat. In der „Aesthetica in nuce“ malt Hamann die Sprachbewegung vom Logos-Schöpfer durch die Natur- zur Menschensprache und zurück zu Gott aus:

„Rede [Gott; S. Sch.], daß ich Dich sehe! – – Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht tuts kund der andern. Ihre Losung läuft über jedes Klima bis an der Welt Ende und in jeder Mundart hört man ihre Stimme. – – Die Schuld mag aber liegen, woran sie will, (außer oder in uns): wir haben an der Natur nichts als Turbatverse [durcheinander geworfene Verse; S. Sch.] und disiecti membra poetae [des zerstückten Poeten, Gottes, Glieder; nach Horaz; S. Sch.] zu unserm Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie auszulegen des Philosophen; sie nachzuahmen – oder noch kühner! – sie in Geschick zu bringen des Poeten bescheiden Teil.7

Im Unterschied zum historischen Menschen war Adam im Paradies in diesen Kreislauf des „Rede, daß ich Dich sehe“ bruchlos integriert. In „Des Ritters von Rosencreuz letzte[r] Willensmeinung über den göttlichen und menschlichen Ursprung der Sprache“ beschwört Hamann die Vorgeschichte:

„Adam also war Gottes; und Gott selbst führte den Erstgeborenen und Ältesten unsers Geschlechts ein, als den Lehnträger und Erben der durch das Wort seines Mundes fertigen Welt. Engel, lüstern sein himmlisches Antlitz anzuschauen, waren des ersten Monarchen Minister und Höflinge. Zum Chor der Morgensterne jauchzeten alle Kinder Gottes. Alles schmeckte und sah, aus erster Hand und auf frischer Tat, die Freundlichkeit des Werkmeisters, der auf seinem Erdboden spielte und seine Lust hatte an den Menschenkindern – Noch war keine Creatur, wider ihren Willen, der Eitelkeit und Knechtschaft des vergänglichen Systems unterworfen, worunter sie gegenwärtig gähnt, seufzet und verstummt […] – – Jede Erscheinung der Natur war ein Wort, – das Zeichen, Sinnbild und Unterpfand einer neuen, geheimen, unaussprechlichen, aber desto innigern Vereinigung, Mitteilung und Gemeinschaft göttlicher Energien und Ideen. Alles, was der Mensch am Anfange hörte, mit Augen sah, beschaute und seine Hände betasteten, war ein lebendiges Wort; denn Gott war das Wort.“8

Dass er mit seiner Sprachtheologie, der Annahme der intakten Sprech- und Verstehenswelt des Paradieses und der korrumpierten historischen Logos-Welt, die sein gesamtes Schreiben und Denken und seine Existenz bestimmte,  dass er mit seiner religiösen Gewissheit von der grundsätzlichen ‚Unaufklärbarkeit’ der Existenz und der Überzeugung von dem „unendlichen Missverhältnis des Menschen zu Gott“9, dem als Schöpfer und Erhalter der Welt und des Ich allein alles transparent ist, eine Außenseiterposition bezog, war Hamann klar: „Glaube ist nicht jedermanns Ding und auch nicht communicable, wie eine Ware“10.  Aus Religiosität widersprach Hamann der Aufklärung und eignete sich die Licht- und Dunkelheitsmetaphorik der Bibel an, deren berühmteste Stelle wohl die des Korintherbriefes (1 Korinther 13, 12) ist:

„Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.“

Als „der wahre Begründer einer polemischen antirationalistischen Tradition“11 setzte der Magus Topoi ihrer Kritik in kraft, die im 20. Jahrhundert in säkularisierter Form philosophisch Breitenwirkung erlangten.

Antizipiertes Nichtverstehen, Perspektivismus im "kabbalistischen" oder wilden Stil

So hat der Magus den Vorwurf der Unverständlichkeit in seinen literarischen Texten und Briefen selbst nicht nur vorhergesehen und explizit vorweggenommen, er hat ihn bewusst provoziert. Seine Texte sind performativ, „durch und durch Stil“, wie Hegel in seiner Hamann-Rezension bemerkte12. Sie sind Literatur – eben nicht Philosophie. Auch deshalb faszinieren sie und regen zum Selberdenken an. Ihr Stil ist Programm und Inhalt. Er trägt Sinn als Hamanns Attacke gegen das Verstehensgebot, die Deutlichkeits- und Rationalitätsmaximen der Aufklärung, indem er sie nicht allein angreift, sondern ihre Befolgung dezidiert durch kalkulierte, in sorgfältiger Lektüre prinzipiell jedoch aufhebbare Unverständlichkeit verweigert. Der Vorwurf „chaotischer Dunkelheit“, der Hamann von der 'richtigen Seite', den Aufklärern, trifft, die er seinerseits auch als „Atheisten“ beschimpft, kann dem protestantischen Logos-Denker seine Fundamentalkritik an der Aufklärung nur bestätigen – einer Aufklärung, die er seinerseits wohl weder verstehen kann noch will.

Der Magus in Norden inszeniert sich in seinen Texten als „Zeitgenosse im Widerspruch“ (Oswald Bayer), indem er einen stylus atrox, oder um mit der "Aesthetica in nuce" zu sprechen, "Rhapsodien in kabbalistischer Prosa" schreibt. Mit diesem wilden Stil stößt er die Zeitgenossen und Spätere vor den Kopf, u.a. durch die unzähligen, versteckten und offensichtlichen, Anspielungen und Zitate, mit scheinbar zusammengeklaubten Lesefrüchten – Hamann ist ein Bücherfresser –, die häufig alt- und neutestamentarisch, oft aber nicht Allgemeingut und allen möglichen Quellen, auch entlegeneren Bibelstellen, entnommen sind. Schwer nur kann man sie häufig entdecken, nicht ohne weiteres sind sie sodann zu entziffern. Auch mit den diversen Masken, die er sich aufsetzt, den verschiedenen Sprachen, derer er sich wie wahllos bedient, und der damit verbundenen Ironie sowie dem Mangel an Systematik stößt der Magus an. Er bekennt:

„Überall ist meine Weide. Mir schmeckt auch alles. Ist es pica [Elster] oder Hunger – aber ich muss in beiden Fällen büßen“13.
„Ein Lai und Ungläubiger kann meine Schreibart nicht anders als für Unsinn erklären, weil ich mit mancherlei Zungen mich ausdrücke und die Sprache der Sophisten, der Wortspieler, der Kreter und Araber, der Weißen und Mohren und Creolen rede, Kritik, Mythologie, rebus und Grundsätze durcheinander schwatze.“14

Hamanns wilder Stil ist nur scheinbar subjektivistisch und nicht-nachvollziehbar spontan. Er ist vielmehr subjektiv im besten Sinn des Kreuzesphilologen, der davon überzeugt ist, dass es keine Position der Wahrheit gibt, wir hier auf der Erde „von Brocken leben. Unsere Gedanken sind nichts als Fragmente. Ja unser Wissen ist Stückwerk. Das Buch der Natur und der Geschichte sind nichts als Chyffern, verborgene Zeichen, die eben den Schlüssel nötig haben, der die heilige Schrift auslegt und die Absicht ihrer Eingebung ist.“15

Unsinn als Vehikel des Verstandes

Klarheit und ein System wären Trug und Betrug und Ausdruck menschlicher Hybris. Hamanns Überzeugung vom göttlichen Sinn von Ich, Natur und Geschichte, von der „Vorsehung“, einerseits und ihrer Undurchschaubarkeit durch den Menschen andererseits geht so weit, dass er vom höheren Sinn des für das „Gesetz der Erfahrung und Vernunft“ offensichtlichen Un- oder Widersinns und von „Handlungen höherer Ordnung, für die keine Gleichung durch die Elemente (Satzungen) dieser Welt heraus gebracht werden kann“16, überzeugt ist. Was für das „Buch der Welt“ gilt, trifft auch zu auf den Text, auf seine literarischen Texte. Wie in der Geschichte durch den „Schriftsteller“ Gott, der „gewohnt [ist], seine Weisheit von den Kindern der Menschen getadelt zu sehen“17, wendet auch der Magus in seinen Texten „Unsinn zum Vehiculo des Verstandes“ an18.

Und: Hamanns stylus atrox ist subjektiv im besten Sinn einer Anderen Moderne, die nicht die vermeintliche Objektivität einer 3. Person Singular-und-Plural zum verbindlichen Standpunkt erhebt. Sie beharrt vielmehr auf der Leibgebundenheit und Perspektivität individueller Vernunft, Erkenntnis und Sprache und verschreibt sich der „genauesten Localität, Individualität und Personalität“ eines ganzheitlich aufgefassten Selbst und seiner symbolischen Artikulation: „Unsere Individualität muss […] in jedes Punkte und Perioden wirken“19. Reflektiert und kalkuliert schreibt der Magus seinen wilden oder 'magischen' Stil. Selbstbewusst wertet er ihn ironisch als „barbarisches Kauderwelsch“20 und seine Briefe als ein „lebendiges Gemälde [seiner] wüsten Lebens- und Denkungsart“, dass er „zu keiner Ruhe kommen [könne], immer von innen und außen, von vorn und hinten hin und her geworfen werde“, ab. Mit seiner angeblichen „Unfähigkeit im geringsten Zusammenhange“21 kokettiert er und ihn verlangt hinsichtlich eines verständnislosen Lesers nach einem „Dolmetscher [seines] Sinnes“22.

Hamanns Stil gründet in seiner Lebenserfahrung und seiner religiös fundierten, schmerzvollen Einsicht in die Unmöglichkeit, das Ganze der Welt und der Geschichte 'aufzuklären', zu verstehen, als Ich einheitlich und sich als Selbst transparent sowie von den andern grundsätzlich ge- und verschieden, doch über die Notwendigkeit der Selbstartikulation und die Symbolsysteme, allen voran die Sprache, mit ihnen verbunden und von ihnen geprägt zu sein. Und im Hinblick auf die Vorrede zu den „Sokratischen Denkwürdigkeiten“, welche er versteckt an seine Freunde Kant und Berens adressierte, die ihn für die Aufklärung zurückgewinnen wollten, heißt es in einem Brief mit ironischer Volte: „Gott versteht mich, sagte wo ich nicht irre, Sancho Pancha [sic!]; aber ich möcht mich doch auch wenigstens verstehen, und mein Nächster. Von den Zween hat mich letzterer fast zu innig verstanden“23.

Hamann lesen und verstehen ist Arbeit — und Lust

Hamanns leidenschaftlicher protestantischer Fundamentalismus mag einer säkular-rationalen Grundeinstellung irrational vorkommen. Dagegen haben zahlreiche philologische Untersuchungen zuletzt gezeigt, dass die Texte des Magus in Norden sich mit dem alten rhetorischen Konzept des stylus atrox und dem postmodernen Konzept der Intertextualität erschließen, wenn auch „mühselig“. Hamann zu lesen, macht Arbeit, seine Texte verschließen sich dem schnellen Zugriff – jedoch um besser, um überhaupt wirklich verstanden, kritisch durchdacht und im besten Fall kritisch angeeignet zu werden. Der Magus fordert aktive, kreative Leser, die beim Lesen ihr Verstehen reflektieren, wenn er sich in eine Traditionslinie mit Sokrates und Heraklit stellt:

„Sokrates war, meine Herren, kein gemeiner Kunstrichter. Er unterschied in den Schriften des Heraklitus dasjenige, was er nicht verstand, von dem, was er darin verstand, und tat eine sehr billige und bescheidene Vermutung von dem Verständlichen auf das Unverständliche. Bei dieser Gelegenheit redete Sokrates von Lesern, welche schwimmen könnten. Ein Zusammenfluss von Ideen und Empfindungen in jener lebenden Elegie vom Philosophen machte desselben Sätze vielleicht zu einer Menge kleiner Inseln, zu deren Gemeinschaft Brücken und Fähren der Methode fehlten.“24

Es ist u.a. dieses Schwimmen-Müssen, diese Nichtkonsumierbarkeit der Hamannschen Texte, es ist die intellektuelle und ästhetische Arbeit, die Anstrengung des Lesers mit dem Wort und seinem Verstehen und seiner Faszination durch den Text, die Lesegenuss und, mit dem Gewinn an Reflexion, Verstehen und Vergnügen, Lebendigkeit, gesteigerte Lebensqualität hervorbringt:

„Die beste Welt wäre längst ein totes Meer geworden, wenn nicht noch ein kleiner Same von Idio- und Patrioten übrig bliebe, die ein hapax legomenon [ein nur ein einziges Mal auftretendes Wort; S. Sch.] lang wiederkäuen, zwo Stunden bei Mondschein zu Übersetzungen, Anmerkungen, Entdeckungen unbekannter Länder widmen, ohngeachtet sie des Tages Last und Hitze ertragen haben“25 (Link)

Nicht verstehen können und wollen

Jede Hamannsche Zeile macht Verstehen sowie das Verstehen des Verstehens als Problem erkennbar und wirft die moralische Frage nach dem Wirklich-verstehen-Wollen auf:

„Wenn man sich nicht einander verstehen will noch kann: so hilft alles Reden nichts, sondern macht nur das Übel ärger. Je mehr Worte, desto mehr Stoff zu Missverständnissen.“26

Heute können wir, dank der, grob gesagt, Anderen Moderne, der Aufklärung der Aufklärung über sich selbst, dank Postmoderne, Globalisierung, Internet, verstehen, dass die „Stilisierung Hamanns zu einem Superlativ der Unverständlichkeit“ mehr über seine Rezipienten als Verstehende und ihr erkenntnisleitendes Interesse denn über ihren Gegenstand aussagt: „Thema und Autor sind [damit] erledigt. Am Anfang […] steht, geradezu beschwörend, der Abbruch der Kommunikation, die Absage an die Möglichkeit des Sprechens über die Unverständlichkeit Hamanns.“27 Dabei ist das Nicht-verstehen-Wollen der Kritiker Hamanns gewiss auch ein Nicht-verstehen-Können. Es vollzieht sich, kursorisch gesprochen, innerhalb des rationalistischen Erklärungshorizonts, des Paradigmas von der Einheit und Selbigkeit der Vernunft in allen Subjekten, der Division des Subjekts in res extensa und res cogitans, welche die Abspaltung der Vernunft von den Körpern, von Sprache und Tradition, den Anspruch auf die Autonomie der Vernunft in jedem Subjekt und die Selbigkeit der Vernunft in allen bedeutet. Dem entspricht das rationalistische Erkenntnisideal der Durchsichtigkeit und Berechenbarkeit des Weltganzen und des Selbst nach Naturgesetzen, ohne die Annahme eines Schöpfergottes, ohne den Glauben an einen welttragenden Logos.

Gegen das autonome Subjekt der Aufklärung und seine klaren Erklärungen vertritt Hamann – hier müssen Stichworte genügen – ein ganzheitliches, relationales Konzept des Individuums. Das Ich ist Dasein als Geist-im-Leib-Sein und In-der-Schöpfung-als-im-Logos-Sein, auch noch dort, wo der Bezug zum Schöpfergott und das Fremd- wie das Selbstverstehen korrumpiert sind: „Geselligkeit ist das wahre Principium der Vernunft und Sprache, durch welche unsere Empfindungen und Vorstellungen modifiziert werden. […] Es gibt keine absoluten Geschöpfe“28. Daher gilt:

„Dass alle gleich viel verstehen sollen, ist unmöglich; aber doch jeder etwas und nach seinem Maß, das er selbst hat und ich ihm weder geben kann noch mag“29.

Susanne Schulte


Anmerkungen

1) Fortsetzung der kritischen Nachrichten vom Zustande des teutschen Parnasses. In: Der Teutsche Merkur, November 1774, 174f.
2) Ludwig Reiner: Deutsche Stilkunst. Ein Lehrbuch deutscher Prosa. München 1944, 312.
3) O.V.: Johann Georg Hamann. In: Karl Heinrich Jördens (Hg.): Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten. Bd. VI. (1811). Nachdruck Hildesheim 1970, 273. – Alle drei Zitate finden sich bei Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Frankfurt a.M. 2000, 90 und 89.
4) Schumacher, 89, 94.
5) Schumacher, 92.
6) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII, 180. – Hamanns Briefe sind, wegen der besseren Lesbarkeit unter Anpassung der Orthografie an die heutige Schreibweise und unter Vernachlässigung der zahlreichen typografischen Auszeichnungen, zitiert nach: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. 7 Bde. Hg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955–1979 (= Hamann Briefe I – VII).
7) Hamann II, 198f. – Hamanns Schriften sind, wegen der besseren Lesbarkeit unter Anpassung der Orthografie an die heutige Schreibweise und unter Vernachlässigung der zahlreichen typografischen Auszeichnungen, zitiert nach: Johann Georg Hamann: Sämtliche Werke. 6 Bde. Hg. von Josef Nadler. Wien 1949–1957 (= Hamann I – VI).
8) Hamann III, 32.
9) Golgotha und Scheblimini. Hamann III, 312.
10) Brief an Jacobi, 27.04.1778. Hamann Briefe VII, 176.
11) Isaiah Berlin: Der Magus in Norden. J.G. Hamann und der Ursprung des modernen Irrationalismus. Berlin 1995, 22.
12) Georg W. F. Hegel: Hamanns Schriften. In: Ders.: Berliner Schriften. 1818-1831 [Werke 11], Frankfurt a.M. 1986, 347.
13) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII, 180.
14) Brief an Lindner, 18.08.1759. Hamann Briefe I, 396.
15) Brocken. Hamann I, 308.
16) Die Magi in Morgenland, zu Bethlehem. Hamann II, 140.
17) Biblische Betrachtungen. Hamann I, 9.
18) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII 177.
19) Brief an Jacobi, 07.05.88. Hamann Briefe VII, 462.
20) Brief an Jacobi, 22.06.1785. Hamann Briefe V, 467.
21) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII, 172, 178.
22) Brief an Jacobi, 22.06.1785. Hamann Briefe V, 465.
23) Brief an Scheffner, 11.02.1785. Hamann Briefe V, 358f.
24) Sokratische Denkwürdigkeiten. Hamann II, 61.
25) Schriftsteller und Kunstrichter. Hamann II, 336.
26) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII, 169.
27) Schumacher, 93.
28) Brief an Jacobi, 27.04.1787. Hamann Briefe VII, 174.
29) Brief an Scheffner, 11.02.1785. Hamann Briefe VI, 158.


 

    Fürstenbergstr. 14, D-48147 Münster , +49 (0)251 591-3214, www. gwk-online.de