magus tage  MÜNSTER


SA 19. Okt 2013 | 20:00 Uhr | Theatertreff

K. – Kaliningrad – Königsberg – Kenig

Die Schriftsteller Jörg Albrecht, Hendrik Jackson und Marion Poschmann waren im Frühjahr 2013 in Kaliningrad-Königsberg zwei „Mythen“ auf der Spur: dem „Magus in Norden“ und „Königsberg“, der Heimatstadt Hamanns, aber auch „Kaliningrad“, der russischen Exklave, mit ihrer dramatischen Geschichte und Gegenwart.

In seinem „Gruß aus Kenig“ hatte Wladimir Gilmanov, Professor an der Kant-Universität Kaliningrad, bei den Magus Tagen 2010 Kaliningrad als eine aufstrebende Metropole zwischen Ost und West, Postsozialismus und Turbokapitalismus gezeichnet, in der die Spuren des Zweiten Weltkriegs und der kommunistischen Diktatur, die „Königsberg“ hatte vernichten wollen, noch offen liegen. Kaliningrad, nach Kalinin, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR (1923–1946) und Mitstreiter der Stalinschen Säuberungen, benannt, trüge heute keinen „wahren Namen“, mit dem sich die Bevölkerung, größtenteils Russen, identifizieren könne. Auch Joseph Brodsky spreche deshalb von Kaliningrad in einem Gedicht als „K.“.


Ausschnitt aus dem „Stadtplan Königsberg 1931 / Kaliningrad heute - BLOCHPLAN” | www.blochplan.de

Zu ihrer Spurenlese in „K.“, die Wladimir Gilmanov und der Kaliningrader Gelehrte Boris Bartfeld begleiteten, führten Jörg Albrecht, Hendrik Jackson und Marion Poschmann ein multimediales Internettagebuch, das nach wie vor aktuell ist: www.koenigsberger-brocken.de

Zu den Magus Tagen bringen die drei Schriftsteller Originalbeiträge zu „K.“., literarische Texte, O-Töne, eigene Fotos, mit: Momentaufnahmen, vorläufige Festschreibungen oder Quintessenzen ihrer Verwunderung angesichts der Fremde und ihres (Nicht-)Verstehens, ihrer Inspiration durch sie und des Glücks dieser Lese.

 

FREMDE | SPUREN | LESEN

Jörg Albrecht | Schriftsteller
Ganze Tage und Nächte haben wir unbeweglich gestanden, in der Hoffnung, noch mehr sein zu können als Geld

Wird Kaliningrad über 20 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion so aussehen wie die meisten Städte, in denen ich mich so herumtreibe? Manchmal denke ich, dass ich als 20-Jähriger auf die Karten der Städte sah, in denen ich war – zum Beispiel Wien, Berlin, das Ruhrgebiet als Riesenstadt –, und dabei immer nur den realen, tatsächlichen Plan der jeweiligen Stadt sah, ein paar Straßen, einen winzigen Teil eines urbanen Gefüges, das sich längst angeschickt hatte, viel größer zu werden. Denn nach 1990 haben alle größeren Städte Westeuropas versucht, einzigartig zu werden, und jetzt gerade habe ich das Gefühl, dass sie das nur wurden, um sich zusammenzuschließen, zu einer Metropole, die authentisch, hip, kreativ ist. Also eigentlich eine einzige globalisierte Stadt – (wenn Globalisierung wieder nur die der Waren und Images meint, die die erste Welt so will) –, die sich vor allem in den zehn Jahren, die zurückliegen, vergrößert hat und auf einmal viele Sprachen spricht, Bahnhöfe, Flughäfen, Schnellstraßen dazugewonnen hat und in allen Vierteln, wenn man den Ton abschaltet, irgendwie gleich aussieht. Eine globale kreative Stadt, in der wir unsere Leben für die Kreisläufe der Wertschöpfung zur Verfügung stellen, um selbst als authentisch, hip, kreativ einzugehen in das Lexikon, an dem wir alle mitschreiben. Das Lexikon der Trauer. – Dass Kaliningrad noch nicht zu dieser Megastadt gehört, ist allerdings kein Grund, traurig zu sein. www.koenigsberger-brocken.de, 16.5.2013

„Können wir uns nur noch darauf einigen, dass wir uns auf nichts einigen können, weil wir den anderen niemals verstehen werden?“

Jörg Albrecht lebt in Berlin, er veröffentlichte u.a. die Romane: Beim Anblick des Bildes vom Wolf (2012); Sternstaub, Goldfunk, Silberstreif (2008); Drei Herzen (2006)

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Marion Poschmann | Schriftstellerin
Bernsteinpark Kaliningrad

Es schwingt bei der Rede von Kaliningrad immer diese erschreckende Leere mit – kann man die Tatsache, dass hier eine Stadt dem Erdboden gleichgemacht wurde, mit einem neuen Alltag wirklich überdecken? Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt, in Häusern zu leben, die praktisch auf dem Nichts neu gebaut wurden. Man sieht im Stadtbild, wie die weiten leeren Plätze mit Symbolen des Sieges gefüllt wurden, mit Denkmälern, die Panzer, Flugzeuge, Kriegsschiffe darstellen, Denkmäler, die in ihrer majestätischen Glätte noch immer etwas Bedrohliches ausstrahlen. Königsberg ist verschwunden. Aber die Sowjetzeit ist auch schon seit 20 Jahren vorbei. Keins der legendären Telefone mehr, die irgendwo an den Hauswänden hingen und nie funktionierten, dafür überall Bankautomaten. Nur noch wenige der halbleeren Geschäfte, die auf riesiger Ladenfläche mit einer Überzahl Verkäufer wenige Produkte anbieten, dafür überdimensionierte Supermärkte, die die Kunden mit Klebemarken dazu verlocken, bei jedem Einkauf mehr als 250 Rubel auszugeben, um für 65 Marken dann umsonst eine Tasse, gefüllt mit einem Stofftier, zu erhalten, man darf wählen zwischen Zwergschnauzer, Französischer Bulldogge, Bracke, Dackel sowie den Katzenrassen Perser und Russisch Blau. (Alle, die ich beobachten konnte, haben Russisch Blau genommen.) www.koenigsberger-brocken.de, 21.5.2013

Hamannstraße: auf dem Überlagerungsplan sind die deutschen und die russischen Straßennamen verzeichnet. Hinter den deutschen Namen steht etwa zur Hälfte in alarmierendem Rot: verschwunden. So auch die Hamannstraße. Der Name ist getilgt. Aber da, wo die Straße verlief, nämlich am nördlichen Pregelufer, gibt es durchaus noch einen Weg, der allerdings jetzt ein Trampelpfad ist. Hamannstraße, die zum Weg heruntergestuft ist und nicht mehr nach Hamann heißt. www.koenigsberger-brocken.de, 29.4.2013

„Verstehen wir Blumen und Blau, Schachbrett und Lederimitat? Verstehen wir Einheitskleidung, Graffitiangst, Zarenreich?
Was sind die feinen Unterschiede der Busse, in denen ich fuhr?“

Marion Poschmann lebt in Berlin, sie veröffentlichte u.a.: Die Sonnenposition (2013), Geistersehen (2010); Hundenovelle (2008); Schwarzweißroman (2005); Grund zu Schafen (2004).

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Hendrik Jackson | Schriftsteller
Rutengänge im Abraum

gestern, als Marion Poschmann aus ihrem Band Geistersehen las, zeigte sich, dass es mit den Geistern eine diffizilere Sache ist. man sollte meinen, einem Boris Bartfeld, der in seinen Gedichten immerzu die Vergangenheit beschwört, das Abwesende, sollte eine Dichtung, die auf alte Formen rekurriert und feinstoffliche Bewegungen des Geistes nachzeichnet, nicht fremd sein. es ist aber scheinbar doch ein ziemlicher Unterschied, ob man sich auf Vergangenes wie auf Sichtbares (wir beschrieben die Anwesenheit des Abwesenden) bezieht, oder auf Aktuelles (Nebel, Stille, Autobahn) wie auf Verschwindendes, Vergängliches, Geisterhaftes. der eine Ansatz versucht zu rationalisieren, wieder zu beleben, den tausendfach überschriebenen Ort zu entziffern, der andere, feinste Bewegungen hinter der Materialität zu beschwören, die in jedem Moment bedroht sind. (…) Stille, Dauer, Gegenwärtigkeit einer saturnischen Zeit birgt Rätsel oder möchte sie schaffen, die eben auch das Verstehen in Frage stellen. Und hier zeigte sich, dass ein Nichtverstehen manchmal mehr in Bewegung setzt als ein Verstehen. wo wir Konkretes sahen, griff der aus seiner Bahn geworfene russische Dichter anstelle des Konkreten immer höhere Kategorien. so entsteht Begeisterung! die Fülle des Unverstandenen drängt auf Materialisation! die Geister metamorphisieren zu Göttern. aber bis dahin entfaltet sich wunderbares Nichtverstehen, der Zauber des Ungreifbaren.www.koenigsberger-brocken.de, 18.5.2013

„... dass ein Nichtverstehen manchmal mehr in Bewegung setzt
als ein Verstehen.“

Hendrik Jackson lebt in Berlin, er veröffentlichte u.a.: Im Licht der Prophezeiungen (2012); Alexej Parschtschikow: Erdöl. Aus dem Russischen von H.J. (2010); Im Innern der zerbrechenden Schale. Poetik und Pastichen (2007); Dunkelströme (2006).

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Boris Bartfeld | Schriftsteller, Hotelier, Mathematiker
Meine Stadt im zerrissenen Raum,
in der Zeit. Bemerkungen eines mathematischen Barbaren und Dichters

Wie kein Zweiter kennt sich der Dichter und Vorsitzende des Kaliningrader Schriftstellerverbandes, der Hotelier, Physiker und Mathematiker Boris Bartfeld in der Geschichte seiner Heimat aus. Für sein vielseitiges kulturelles Engagement wurde er mehrfach geehrt.

Die Brücke ist frei, Luise hat die Durchfahrt geöffnet
       Aus dem romantischen neunzehnten Jahrhundert
In das zynische einundzwanzigste Jahrhundert,
       Übergehend das verkrüppelte zwanzigste Jahrhundert.
Und wir eilen dahin nach Norden
       Zu der roten Verbotsampel,
Verletzen alle Gesetze der physischen Geographie,
      Aus dem wilden russischen, sich aber schon waschenden Asien
Nach Westeuropa,
      Das sich auch nach hundert Jahren nicht reingewaschen hat.
      Boris Bartfeld, aus: Grenzstadt Tilsit

Übrigens gehört die Rezitation des Gedichtes durch Boris Bartfeld auf dem Weg zurück, im Auto sitzend, völlig unbekümmert um Geruckel durch Schlaglöcher, Rumpeln und jähe Kurven, mit Gepäck Familie und drei Dichtern im Stauraum zu den heimlichen Höhepunkten unserer Reise. Seine Verknüpfung von Geschichte und Impression geben den Landschaften einen Ton und eine historische Tiefenschicht, die man dann nur schwer wieder vergessen kann. aber es ist ja auch nicht Aufgabe, sich die Stadt unbekümmert zu erschließen. ja, die russische Rezitation! www.koenigsberger-brocken.de, Hendrik Jackson am 2.5.2013

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Programm  SA 19. Okt | 16 Uhr Programm  SO 20. Okt | 11:30 Uhr  
 

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