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FLIEGENDE BLÄTTER
Lesungen
Freitag, 05. November 2010, 20:00 Uhr
Kreuzzüge oder "Die Motten sagen es in der Dämmerung den Vögeln
und die Vögel den Wolken: Rede, daß ich Dich sehe! -- Dieser Wunsch
wurde durch die Schöpfung erfüllt, die eine Rede an die Kreatur durch
die Kreatur ist. Luftgetier – wie Flügel sich öffnen und wieder
schließen, die Nachtaugen klappen, so verwirbeln "an" und
"durch" im Aufwind. Wer angesprochen ist, spricht. Jede
Sache ist ein unsichtbarer Embryo, dessen Begriff und Innhalt durch
den Vortrag erst, gleichsam zur Welt kommen, und offenbar werden muß.
Alles redet, schwirrt und brummt – Chyffern, verborgene Zeichen. Wo liegt aber das Räzel des Buchs? In seiner Sprache oder in seinem Inhalt? Im Plan des Urhebers oder im Geist des Auslegers?"
"Bloß sieben Wochen später, in der Wiener Semmelweis
Klinik, sah ich zu, wie das neugeborene Mädchen, wenige
Minuten nach der Geburt oder noch weniger als wenige Minuten,
beinahe versunken da saß auf dem Bett im Kreißsaal 1, doch
das kleine Mädchen konnte noch nicht sitzen, doch lag es
weder bäuchlings noch rücklings auf dem Bett, und wie es
eine zwischen Daumen und Finger gerutschte Falte des Leintuchs
auf einmal nahm, festhielt, gewahrte und ohne hinabzublicken
darauf Acht gab und Acht gab und Acht gab und vielleicht
nicht die Beschaffenheit des Leinens prüfte, sondern sich
zur Welt brachte, die Gefühle zur Welt brachte, die Gefühle
der Haut zum ersten Mal in der frischen Weltluft, welche
zum spaltbreit geöffneten Fenster hereinwehte aus dem Semmelweis
Park, herstellte. Ganz leicht bewegte sie Daumen und Finger,
bewegte und bewegte Daumen und Finger vor und zurück. Achtete
sie versunken hockend, sehr gebeugt krumm hockend, auf das
Leinen oder auf die zwei Finger? Ich wusste nicht, als ich
sah, was das Mädchen tat, ob es wichtig war, ihr dabei zuzusehen,
also sah ich ihr zu. Indem ich nicht wusste, schien ich
richtig aufzufassen. Hatte ich Vernunft, indem ich nicht
wusste? War der Intellekt eine nichtwissende Fähigkeit?"
"Engel sind Wahrhalter, denke ich mit eigensinniger
Kraft gegen den Daihatsu an, von den in Luftzügen schwebenden,
driftenden, flatternden Wörtern müssen sie noch die winzigsten
darein verfitzten Botschaftskörner vernehmen. Wer so intensiv
hört, bis ins Innerste der Stille hinein, versteht vielleicht
im eigentlichen Sinne nicht. Nehmen wir einmal an, Gott
sage SPEZIFISCH. Da darf es in einem Engelhirn nicht allzu
lang rappeln, bis es alle möglichen Varianten von Spezi
und Fisch samt den in der Bibel auftauchenden Fischvorkömmnissen
überprüft hat und zu dem Schluss gekommen ist, dass Fische
als Heringe, Sardine, Thunfisch quasi nur im Nebenher, als
fröhlicher Begleitschwarm durch die das Wörtlein tragende
Luftmenge schwimmen.
Ein herzlich dummes Beispiel, ich weiß […] Hehe, Schwester, bitte nicht so trübe. Ich denke an Engel, und du legst den Kopf auf die Seite und schläfst mir weg, nur weil es Abend und die Autobahn leer wird. Sendboten, Schwester! Abendverkehr, Geflatter am Himmel. Signifikanten- schwemme! Sendboten sind dazu da, das göttliche Kauderwelsch auseinanderzunehmen. Sammeln, Sortieren, Begutachten, Gruppieren, Verbinden. Hören eben, was sonst. Die darin wie in Bernstein eingesiegelten Aufträge sind weiterzuleiten an alles, was Ohren hat. Selbst wenn sich im Hohen Willen ein Schwanken bemerkbar machen, der Hohe Wille gleichsam an sich selbst verzagen sollte. Ein Fehlhören darf nicht unterkommen. Die Botschaften müssen korrekt empfangen und korrekt überbracht werden." Aus: Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff. Roman, Suhrkamp 2009
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